Es wird viel für Behinderte getan. Vor allem die 2008 in Kraft getretene Behindertenrechtskonvention der UNO hat eine neue Aufmerksamkeit für die Belange Behinderter bewirkt. Auch die EU hat diese bedeutsame UN-Konvention am 23.12.2010 angenommen. Ihre Mitgliedsstaaten sind damit verpflichtet, Behinderten eine gleichberechtigte Teilhabe bzw. Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Das Zauberwort, das seitdem in aller Munde ist, heißt „Inklusion“: Nicht die Behinderten haben die Aufgabe, sich den gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen, sondern die Gesellschaft muss sich auf die Belange Behinderter einstellen.
Tatsächlich ist es noch ein langer Weg bis zur wirklichen Anerkennung von Menschen mit Behinderung. So macht sich ein Mitgliedsstaat der EU, der doch verpflichtet wäre, seine Gesellschaft dergestalt zu verändern, Behinderten die Teilhabe am Leben zu ermöglichen, daran, eben diese Veränderung unnötig werden zu lassen: Das als liberal und weltoffen geltende Dänemark verfolgt das Ziel, dass es bis zum Jahr 2030 keine Menschen mit dem sogenannten Down-Syndrom mehr geben soll. Im Hintergrund stehen neue Diagnostiktests, deren Herstellerfirmen damit werben, dass schon anhand einer Blutprobe der Schwangeren ein Down-Syndrom (Trisomie 21) festgestellt werden kann. Seit in Dänemark vergleichbare Tests als kostenlose Voruntersuchungen 2004 eingeführt wurden, sank die Zahl der Neugeborenen mit Down-Syndrom um 50 Prozent. Da ist der Auftrag der UNO von 2008 exklusiv gelöst: Die Gesellschaft schafft die Behinderung ab und alles bleibt, wie es ist. Unglaublich!
Ehe wir jetzt wieder anfangen, plakativ zu protestieren, die Glocken demonstrativ zu läuten und sich mit christlicher Verve in Betroffenheitspolemik zu ergehen, sollten wir den Blick auf uns selbst lenken. Behinderte haben in unseren Gemeinden sicher ihren Platz. Aber sind sie auch wirklich willkommen? Stehen Behinderte wirklich im Mittelpunkt, oder dürfen sie nur hinterherlaufen, während man sich hinter vorgehaltener Hand über deren Drolligkeiten amüsiert? Dürfen Behinderte im Gottesdienst mitfeiern, oder stören ihre Geräusch unsere Andacht? Das sind Gewissensfragen, denen sich Gemeinden und ihre Mitglieder stellen müssen, denn die Inklusion fängt bei uns an.
Nur um das klarzustellen: Das Leben mit Behinderten ist besonders, bisweilen speziell. Eltern behinderter Kinder stehen vor einer großen Herausforderung. Ihr Leben (und das ihrer Kinder) bleibt anders. Ich weiß, wovon ich schreibe, denn ich bin Vater zweier Kinder mit Down-Syndrom. Zweier Kinder, die mich mit ihrer lebendigen Sturheit und ihrer sturen Lebensfreude manchmal an den Rand der Verzweiflung treiben. Ich möchte keinen Tag missen!
Dr. Werner Kleine
Der Beitrag wurde als Gastkommentar in der Kirchenzeitung Köln vom 27. Januar 2012 (Nr 3/12) erstveröffentlicht.
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Vielen Dank! Habe mich sehr gefreut, den Artikel gleich auf der ersten Seite der KiZeitung zu erblicken 🙂
Jetzt steht – wie Spiegel-online unter http://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/trisomie-21-bluttest-erkennt-down-syndrom-beim-foetus-a-837554.html berichtet – die Anwendung des fraglichen Bluttests auch in Deutschland vor der Einführung. Auf der einen Seite wird – manchmal ohne Beachtung der tatsächlichen Konsequenzen für alle Beteiligten – von der Inklusion geredet; auf der anderen Seite dann solche exklusiven Lösungen, die verhindern sollen, dass gesunde Kinder abgetrieben werden – diese menschenverachtende und diskriminierende Argumentation muss man sich wirklich vergegenwärtigen. Was ist der Mensch eigentlich? Und was das Leben? Eine unbedachte Gleichmacherei Behinderter und Nichtbehinderter hilft ebenso wenig, wie die exklusive Lösung durch Bluttests. Auf der Strecke bleiben Menschen mit Behinderung, die so oder so ihrer Rechte beraubt werden: Auf der einen Seite sind ja alle inkludiert gleich – warum sollen da noch Sonderrechte geltend gemacht werden können; auf der anderern Seite entsteht die Frage, warum Behinderte überhaupt noch da sind. Unfassbar! Worum geht es in diesem Leben eigentlich? und: Was glaubt der Mensch eigentlich, wer er ist?
Dr. W. Kleine
Und hier noch ein interessanter Beitrag zum Thema von der Vizepräses der rheinischen Landeskirche, Petra Boss-Huber: http://www.fr-online.de/meinung/gastbeitrag-ein-falsches-ideal,1472602,11939640.html
Wer Stellung gegen die Praena-Tests beziehen möchte, kann das jetzt mit der Unterzeichnung der Petition „Gesundheitswesen – Verbot des ‚Praena-Tests‘ zur vorgeburtlichen Diagnose vom 04.09.2012“ tun: https://epetitionen.bundestag.de/petitionen/_2012/_09/_04/Petition_35635.html.